Cora aus dem Bockelweg
Autorin: Katja Habicht
Illustration: Heike Schweinberger
Theresa und Marie liegen auf dem flauschigen Teppich in Theresas Zimmer und schauen sich ein Tierbuch mit großen Bildern an. „Iiih, guck mal!“, quiekt Marie auf einmal. „Die Fledermaus sieht aber hässlich aus. Der möchte ich nicht begegnen. Bestimmt ist sie gefährlich. Schau mal, das komische Gesicht und die schwarzen Flügel.“ Sie schüttelt sich. Theresa liest, was unter dem Bild steht. „Die Fledermaus ist ganz harmlos“, murmelt sie. „Waaas?“ Marie rückt näher heran. „Du hast bestimmt unter dem falschen Bild geguckt.“ Theresa schüttelt den Kopf. „Nein, sieh mal, hier steht es: Vor der Fledermaus haben manche Menschen Angst, doch sie ist ein ganz harmloses Tier. Die Fledermaus ist sogar sehr nützlich, da sie schädliche Insekten frisst.“ „Wirklich?“ Marie starrt in das Buch und kratzt sich dabei an der Nase. „Das ist ja wie bei uns Menschen. Am Sonntag in der Kinderstunde haben wir doch gehört, dass man nicht darauf schauen soll, wie jemand aussieht. Es kommt auf das Herz an, aber das kennt nur Gott.“ Theresa nickt, und die Mädchen blättern weiter, um sich noch mehr Tiere anzusehen: Hühner, Ameisen, Murmeltiere und Frösche. Da kommt Theresas Mama ins Zimmer und sagt: „Marie, es ist Zeit, nach Hause zu gehen!“
Am nächsten Nachmittag treffen sich die beiden Mädchen auf dem Spielplatz. Aber dort ist nicht viel los. „Kein Wunder, es ist ja auch ziemlich kalt“, sagt Marie und zieht sich die Kapuze über den Kopf. „Guck mal, da sitzt ein Mädchen ganz alleine im Sandkasten.“ Theresa stupst ihre Freundin an. „Wie sieht die denn aus?“ Marie dreht sich um und hält sich die Hand vor den Mund. „Ach du Schreck! Ich glaube, die hat sich ein Jahr lang nicht gekämmt. Und schau dir mal ihre Kleider an.“ Jetzt bemerkt auch Theresa, dass das Mädchen keine Schuhe und Strümpfe und nur eine kurze Hose anhat. „Puh, und das bei so einer Kälte.“ Sie friert schon, wenn sie das Mädchen nur ansieht. „Du, das ist doch die Cora aus dem Bockelweg“, sagt Marie auf einmal. „Unsere Nachbarin hat gesagt, dass in dem verfallenen Haus im Bockelweg nur dreckige Leute wohnen und dass wir mit den Bockelkindern nicht spielen sollen. Komm, wir gehen lieber woanders hin.“ Doch plötzlich dreht Cora sich zur Seite, sieht Theresa und Marie und kommt näher. Dabei kaut sie an ihren schmutzigen Fingernägeln. „Hallo, wollen wir zusammen spielen?“ Theresa hat einen Kloß im Hals. „Also ... also ... nein, wir wollten gerade gehen“, stammelt sie. Da verzieht Cora das Gesicht, sie hat Tränen in den Augen. „Das habe ich mir schon gedacht“, antwortet sie leise. Langsam trottet sie wieder zum Sandkasten zurück. Marie schaut Theresa an. „Eigentlich war sie doch ganz nett“, flüstert sie und schaut Cora hinterher.
„Guck mal!“, ruft Theresa. „Da kommt Laura. – Hey Laura, willst du mit uns spielen?“ Sofort kommt Laura angeflitzt. Zusammen gehen sie zum Klettergerüst und spielen, dass sie kleine Affen sind, die an den Ästen hangeln. Laura klettert hoch und runter und macht sogar die Affenstimmen nach. Doch Theresa schaut immer wieder zu Cora, die ganz alleine im Sandkasten sitzt. Auch Marie dreht sich manchmal zu Cora um. „He, was ist denn mit euch? Ihr spielt ja gar nicht richtig“, beschwert sich Laura. „Kommt, wir fragen Cora, ob sie mitspielen will“, schlägt Marie vor. Laura schaut zum Sandkasten hinüber und verzieht das Gesicht. „Nein, ich spiele nicht mit den Bockelkindern.“ Dann klettert sie weiter. Theresa überlegt. „Marie, weißt du noch, was wir in der Kinderstunde gehört haben? Dass Gott nicht darauf schaut, wie ein Mensch aussieht, sondern nur auf sein Herz. Vielleicht sollten wir bei Cora auch nicht nur danach gucken, wie sie aussieht.“ „Ja“, stimmt Marie ihr zu. „In der Bibel steht, dass der Herr Jesus zu jedem Menschen gegangen ist, egal wie er aussah. Schließlich hat Gott jeden Menschen lieb, also auch Cora.“ Theresa zögert kurz, doch dann geht sie mit Marie zum Sandkasten. Laura bleibt auf dem Klettergerüst zurück.
„Also ... ähm ... du hast ja bestimmt schon gesehen ... wir sind doch noch hier“, sagt Theresa zu Cora. „Wenn ... also ... wenn du noch möchtest, können wir zusammen spielen.“ Cora schaut die Mädchen an und kaut wieder an ihren Fingernägeln. „Ich ... ich würde gerne mitspielen“, antwortet sie und strahlt. Theresa und Marie nehmen Cora mit zum Klettergerüst. Es wird sehr lustig, denn Cora kann wirklich gut kleine Äffchen nachmachen. Mit ihren nackten Füßen klettert sie flink über die Holzsprossen. Theresa und Marie müssen lachen. Nur Laura sitzt etwas abseits. Doch nach einer Weile verliert auch sie ihre Scheu und spielt mit. Als es dämmrig wird und sie nach Hause müssen, laden die beiden Freundinnen Laura und Cora für den nächsten Tag zur Kinderstunde ein. „Wir holen euch zu Hause ab, dann können wir zusammen gehen“, schlägt Marie vor. „Ich darf bestimmt wieder nicht“, sagt Laura sofort. „Mein Papa hat das letzte Mal auch Nein gesagt.“ Cora dagegen klatscht in die Hände. „In einer Kinderstunde war ich noch nie. Ich komme mit. Meiner Mama ist es sowieso egal, wo ich hingehe.“ „Also dann bis morgen“, verabschiedet Theresa sich und geht mit Marie nach Hause. Unterwegs bleibt Theresa auf einmal stehen und sieht Marie an. „Weißt du was? Wir wollen nicht mehr darauf schauen, wie jemand aussieht, sondern immer daran denken, dass Gott jeden Menschen lieb hat.“ „Gute Idee!“, sagt Marie.
Am nächsten Morgen, als Theresa im Bockelweg an der kaputten Haustür klingelt, reißt Cora gleich die Tür auf und strahlt sie an. Sie trägt eine viel zu kurze Hose und einen fleckigen Pullover, und ihre Haare sind immer noch zerzaust. Doch Theresa und Marie wissen jetzt: Darauf kommt es nicht an. Das Wichtigste ist, dass Cora vom Herrn Jesus hört.
Entnommen aus:
"Gott schenkt Mut"
von Katja Habicht und Heike Schweinberger
Copyright © BOAS media e.V. - 32791 Lage
ISBN 978-3-942258-14-2 / Art.-Nr. 176814
EUR 10,00 [D]
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